Jürgen Manemann diagnostiziert eine Rückkehr der Politik, verbunden allerdings mit einem Wechsel der Perspektive: Wurden Entscheidungen bisher fast ausschließlich von Politik und Verwaltung vorbereitet und umgesetzt, deren Auswirkungen der Einzelne als Folge hinzunehmen habe, nähmen jetzt immer mehr handelnde Menschen das Heft selber in die Hand. Aus Wahlbürgern würden zunehmend Aktivbürger, was sich gravierend auf der politischen Bühne auswirke. Das habe sich an vielen Bürgerbewegungen in den letzten Jahren gezeigt, aber auch die Kirchen würden mit Initiativen zunehmend Einfluss auf Entscheidungen der plotischen Hierarchien nehmen. So laute nicht zufällig das Motto 2014 der EKD im Rahmen der Luther-Dekade „Reformation. Macht. Politik“. Auch Papst Franziskus fordere die Kirche auf, sich zu Gunsten der Armen in der Welt einzubringen, d.h. zuzuhören, hinzugehen, sich einzumischen und damit Politik zu gestalten.
Prof. Dr. Jürgen Manemann
Foto: J. Jaeckel
Mit 11 Thesen über „Wie wir gut zusammen leben“ definierte Jürgen Manemann seine Vorstellungen vom Begriff Politik :
1. Politik setzt die Fähigkeit des Zuhörens voraus.
Wie in den griechischen Stadtstaaten der Antike werden z. Zt. überall in der Welt öffentliche Plätze zu Orten der politischen Auseinandersetzung. Neben die Monologe vom Rednerpult zu den Massen bzw. von der Kanzel zu den Gläubigen, tritt der Dialog zwischen Einzelnen, die aus der Anonymität der Masse heraustreten. Der Austausch der Argumente fördert bzw. erzwingt das Zuhören. Moderne politische Institutionen leben vom kommunikativen Miteinander, gegenseitiger Anerkennung.
2. Kultur ist der neue Name für Politik.
Die Flucht junger Menschen in eine virtuelle Welt macht ein mangelndes Interesse an der eigenen Zukunft deutlich, sie verlieren die Kontrolle über ihr eigenes Leben. Häufig beziehen sich Fragen an die Zukunft eher auf die Umwelt als auf die Gesellschaft, ganz davon abgesehen, dass sich die persönliche Perspektive bei vielen Zeitgenossen im Materiellen erschöpft, auf „haben“, nicht auf „sein“. Heute geht es aber nicht um einen Mangel an Haben, das Problem scheint eher der Mangel an Sein zu sein: Anerkanntsein. Und dazu ist eine Kultur des Zusammenlebens erforderlich, die Sinn erzeugt. Es reicht nicht, den künftigen Generationen nur eine ökologische und soziale Umwelt zu hinterlassen, sondern auch eine kulturelle und religiöse Umwelt. Angesichts der weitgehenden Ermüdung gegenüber religiösen Themen ist eine politische Kultur des Zusammenlebens nötig. Sie muss den Rahmen herstellen für soziale Teilhabe des Einzelnen und die Übernahme von Aufgaben für Andere. Äußere wie innere Anerkennung ist die Voraussetzungen für ein gelingendes Leben.
3. Politik ist keine Klientelpolitik.
Politik ist ihrem Ursprung nach dem Gemeinwohl verpflichtet; der Einsatz für die eigene Familie oder Gruppe (Klientel) ist in diesem Sinn nicht politisch. Das gilt auch für die auf Leistungs-, Erfolgs- und Konkurrenzdenken basierende Wirtschaft, die von Voraussetzungen lebt, die sie allein nicht garantieren kann. So kommen wirtschaftliche Beziehungen nicht ohne Vertrauen aus („Kredit“ von lat. Credo: ich glaube). So versteht sich die Soziale Marktwirtschaft auch als eine Form des Handelns, die eingebettet ist in das kulturelle Umfeld.
4. Politik wurzelt in der Verschiedenheit der Menschen.
Wertschätzung der Pluralität ist unabdingbar für die Würde des Individuums und beinhaltet die Anerkennung der Gleichwertigkeit unterschiedlicher Ethnien, Religionen und Weltanschauungen. Das ist nicht mit Neutralität zu verwechseln, die z.B. religiöse Andersheit von Menschen auf den privaten Raum beschränken, diese Differenz im öffentlichen Raum unsichtbar erscheinen lassen will. Identitätsfragen der Bürger werden damit nivelliert und nicht ernst genommen.
5. Die Ethik der Machtpolitik ist die Ordnung.
Die Macht des Staates ist notwendig für die Sicherheit und den Schutz seiner Bürger vor allen Arten von Regelverletzungen. Dazu bedarf es der Einschränkung der Freiheit des Einzelnen.
6. Die Ethik der Bürgerpolitik ist die Veränderung.
Indem sie auf Veränderungen der bestehenden Regeln aus ist, ist die Zivilgesellschaft der Gegenspieler der staatlichen Ordnung. Demokratische Tugenden fallen nicht vom Himmel, sie müssen ständig eingeübt werden. Zur politischen Kultur gehört die Anerkennung von Mehrheitsentscheidungen ebenso wie die Berücksichtigung von Minderheitenrechten.
7. Gerechtigkeit ist das Fundament der Politik.
Die Anteile an Macht und Einfluß sind unterschiedlich verteilt. Es ist Sache der Politik im Sinne des Gemeinwohls, den Machtlosen, Sprachlosen und Außenseitern zu ihrem Recht zu verhelfen. Das gilt auch für gerechten Ausgleich im wirtschaftlichen Bereich.
8. Leidempfindlichkeit ist die Bedingung aller Politik.
Compassion, Mitleiden bzw. Mit-Leidenschaft, ist mehr als Mitleid und mehr als Empathie. Mit und für Leidende kämpfen, erfordert Passion und ein gewisses Maß an Leidensfähigkeit. Aus christlicher Sicht hat Leid nur einen einzigen Sinn, es abzuschaffen.
9. Krieg ist kein Mittel der Politik.
Es gibt keinen gerechten Krieg, aber es gibt einen gerechten Frieden. Um diesen zu verteidigen oder zu erreichen, oder auch gegenüber Despoten zu erkämpfen, kann Krieg ein Mittel zum Zweck sein.
10. Politik braucht demütige Politiker.
Der Kompromiss ist die schmerzhafte Anerkennung des Standpunktes des Anderen. Er ist die beste, nicht die zweitbeste Lösung. Demut ist die Fähigkeit, sich zurück zu nehmen oder zurück zu ziehen, um dem Anderen und seinen Argumenten eine Chance zu geben.
11. Politik ist die Kunst des Unmöglichen.
Wenn Realpolitik die Kunst des Möglichen genannt wird, wer definiert die Realität? Grenzen sind nur wahrzunehmen, indem man sie überschreitet. Das Unmögliche ist nicht das Gegenteil des Möglichen, sondern es liegt jenseits der Grenzen des Möglichen.
Prof. Manemann und Manfred Klostermann
als Moderator Foto: J. Jäckel
Um gut zusammen zu leben, ist ein Zivilisations- und Kulturwandel nötig, dessen Ziel in einer Ethik liegt, wie ihn unsere christliche Religion fordert.
In der Diskussion wurden Fragen gestellt, wie operationale Politik ohne klares Programm aussehen soll, und wie der Vortragende zu dem Begriff „Konsens“ steht. Für Prof. Manemann ist Konsens als Zentralbegriff politischen Handels von zweifelhafter Qualität, da er zu vorschnellen Problemlösungen verleitet. Dagegen ist das Aushalten von Dissensen eher geeignet, zu neuen Lösungen zu führen. Der interreligiöse Dialog zum Beispiel lebt davon, dass Unterschiede stehen gelassen werden. Das Aushalten unterschiedlicher Positionen muss gelernt und immer wieder eingeübt werden.
Jugendliche werden nicht wirklich erwachsen, wenn ihnen neben materiellem Mangel auch die Auseinandersetzung mit existentiellen Fragen und mit mehr oder weniger unlösbaren Problemen erspart bleibt. Darüber hinaus könnte durch das inflationäre Angebot an gespielter und vorgespielter Gewalt jedes Gefühl gegenüber realem Leid verloren gehen und damit die Bereitschaft, dagegen aktiv zu werden. Auch Leid ist nicht ohne Sinn; wichtiger Bestandteil der politischen Kultur ist die christliche Tugend der Hoffnung.
Detlef Merkel