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veröffentlicht am 02.03.2014 / geändert am 02.03.2014

Mehr Geld für Vorschulerziehung wichtiger als Stipendien für Studenten UPDATE

Hans-Ulrich Wehler, bis zu seiner Emeritierung Professor für Allgemeine Geschichte an der Universität Bielefeld, hatte am Mittwoch, dem 12. Februar 2014, so viel Besucher in die kath. St. Elisabeth-Gemeinde gelockt, dass ein Umzug vom Gemeindesaal in den größeren Kirchenraum erforderlich war. Sein Thema „Wie soziale Ungleichheit die Gesellschaft spaltet“ war Teil der Veranstaltungsreihe „Das Richtige tun“ des Arbeitskreises Ökumene der Hamelner Nordstadt und des Ökumenischen Zentrums Klein Berkel.
 
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Prof. Wehler im Februar 2014
in Hameln. Foto: J. Jäckel
In seinem mit vielen Zahlen und Größenvergleichen gespickten Vortrag beschäftigte sich Hans-Ulrich Wehler mit den Einkommens- und Vermögensverhältnissen in Deutschland und deren geschichtlicher Entwicklung.

• So bezeichnete er die Zeit um 1990 als Wende in der Einkommensentwicklung der Topmanager in Deutschland, als sich Daimler mehrheitlich am amerikanischen  Unternehmen Chrysler beteiligte und man befand, bei den Gehältern der Topmanager mit denen in den USA „wettbewerbsfähig“ sein zu müssen. Stiegen die Jahreseinkommen der Vorstände großer deutscher Unternehmen bis dahin parallel zur allgemeinen Einkommenssteigerung bis auf 500.000 DM, lägen sie heute mit 5 bis 6 Millionen Euro um mehr als das Hundertfache über den Durchschnittslöhnen ihrer Mitarbeiter. Diese soziale Ungleichheit (für Prof Wehler ist der Ausdruck weniger „moralisierend“ als Ungerechtigkeit) würde bedauerlicherweise nur von wenigen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlern bearbeitet und von der Politik  kaum ernst genommen; sie spielte im letzten Wahlkampf keine Rolle. Die Zeit um 1990 sei geprägt worden von der Deregulierungspolitik der Reagan- und Thatcher-Ära, beeinflusst von der neoliberalen Schule der Wirtschaftswissenschaften. Allerdings nähme die Bundesrepublik als Sozialstaat innerhalb der fünf reichsten Staaten der Welt (inkl. Saudi-Arabien!) eine Sonderrolle ein. Der Agenda-2010-Politik Gerd Schröders sei zugute zu halten, dass Deutschland die globale Finanzkrise relativ gut überstanden habe.

• Die Einkommen der Arbeiter und Angestellten seien von 1950 bis 1990 trotz kurzer Unterbrechungen wegen der Ölkrisen kontinuierlich mit jährlichen Wachstumsraten bis zu 9 % auf das Zehnfache des Ausgangswertes gestiegen. Die Verteilung der Einkommen blieb während dieser Zeit relativ konstant. 1990 erreichten 8,1 % der Erwerbstätigen Nettoeinkünfte bis zu 1000 DM, 58,5 % zwischen 1000 und 3000 DM, nur  6,3 % mehr als 5000 DM. Am Anfang der Bundesrepublik stehe das „Wirtschaftswunder“, man erinnere sich etwa an die zunehmende Mobilität (Fahrrad – Motorrad – Auto) und an die gegenüber der Vorkriegszeit deutlich verbesserte Wohnqualität. Die Zerstörung der Industrie durch den Bombenkrieg betraf die relativ moderne maschinelle Ausstattung weniger stark als den Gebäudebestand, und aufgrund der vergleichsweise hohen Qualifikation der Beschäftigten und mit Hilfe von ausländischem Kapital kam die Wirtschaft schneller wieder in Schwung als in den Nachbarländern. Anders als dort wurde das Wirtschaftswachstum kaum durch Streiks gebremst; die pragmatische Haltung der Gewerkschaften sicherte den sozialen Frieden.

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Foto: J. Jäckel
Seit den 1990er Jahren stiegen die Managergehälter nach amerikanischem Vorbild bis in zweistellige Millionenhöhe, und selbst das Ausscheiden werde diesen Leuten (nach durchschnittlich sechsjähriger Dienstzeit) mit Abfindungen in der gleichen Größenordnung vergoldet, und danach noch Anspruch auf  Millionenbeträge als „Betriebsrente“ für sich und ihre Familienangehörigen. Von Leistungsgerechtigkeit könne hier keine Rede mehr sein. Im unteren Bereich der Einkommen dagegen sei die Anzahl der Teilzeit- und Mini-Job-Beschäftigten von 3 Millionen im Jahr 1984 auf aktuell mehr als 8 Millionen gewachsen. Auf der anderen Seite fördere das Steuerrecht die Konzentration der selbstständigen Einkommen. 1980 lagen die Anteile der Gewinn-, Vermögens- und Lohnsteuer am gesamten Steueraufkommen mit rd. 28 % noch in  der gleichen Größenordnung. Seither stieg der Anteil der Lohn-, Mehrwert- und Mineralölsteuer auf 38 %; die Gewinnsteuer wurde auf 15 % gesenkt. Die Vermögenssteuer wurde nach einer Intervention des Bundesverfassungsgerichts, der man mit einer Neufassung der gesetzlichen Grundlage hätte begegnen sollen, seit 1995 gar nicht mehr erhoben.

• Die Ungleichheit der Vermögensverteilung ist noch größer als die der Einkommensverteilung. Die oberen 10 % der Besitzenden kontrollierten 1970 schon 44 % des gesamten Nationalvermögens, 2010 bereits 66 %; das oberste 1 % besitze mit 35,8 % mehr als die unteren 90 %. Und: Vermögen werde vererbt, zwischen 2000 und 2010 in einer Größenordnung von 2 Billionen; im laufenden Jahrzehnt sei mit 3 Billionen zu rechnen. Der Wegfall der Erbschaftssteuer habe den Staat um Einnahmen gebracht, mit deren Hilfe der Bildungsmisere und dem Verfall der Infrastruktur hätte Einhalt geboten werden können; die 160 Millionen für eine Rentenerhöhung, die ohne zusätzliche Steuereinnahmen bislang nicht gedeckt seien, machten sich dagegen fast lächerlich aus.

• Soziale Ungleichheiten gebe es ferner zwischen den klassischen Ständen vom Adel bis zur Arbeiterschaft, heute „Prekariat“, zwischen Gruppen unterschiedlichen Bildungsniveaus und zwischen den Geschlechtern und Ethnien. Die Stabilität dieser Klassen drücke sich u.a. dadurch aus, dass ihre Angehörigen fast nur untereinander heirateten und die schulischen und universitären Abschlüsse stark vom Elternhaus abhängen würden.

• Wie reagierten Gesellschaft und Politik? Die Steuerfahndung wurde zurückgefahren; insbesondere die Steuerflucht in 3-stelliger Milliardenhöhe bis nach Südostasien sei kaum zu unterbinden. Die Vermögen sind nach dem Wegfall der Vermögenssteuer gar nicht mehr zu schätzen. Auf den Aktionärsversammlungen träten keine kritischen Minderheiten in Erscheinung; die Managergehälter würden auch von den Gewerkschaftlern in den Aufsichtsräten mitbeschlossen.

Frauen drängen in die Hochschulen und auf den Arbeitsmarkt. In den gewerkschaftlichen Gremien dominieren die Männer aufgrund des Rollenverhaltens vor allem der älteren, oder mangelndem „Stallgeruch“ der jüngeren Frauen. Die versprochenen gesetzlichen Vorgaben der Großen Koalition für den Frauenanteil in Aufsichtsräten würden wohl durch Ausnahmeregelungen verwässert. Auch im Hochschulbereich lasse die Geschlechtergerechtigkeit auf sich warten, weil kämpferische Frauen um ihre Karriere fürchten müssten. Dazu komme der Konflikt zwischen Karriere und Familie; die Scheidungsrate bei akademisch gebildeten Frauen nähme mit 57 % einen traurigen Spitzenwert ein.

Diskussion


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Die intensive Diskussion mit Prof. Wehler
leitete Dr. Magagnoli. Alle Fotos: J. Jäckel
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Im angeregten Gespräch mit den Zuhörern.
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Prof. Wehler am Schluss seiner Ausführungen


Die Annahme des (amerikanischen) Neoliberalismus, wachsender Reichtum der Oberschicht würde auch den unteren Klassen zugutekommen, habe sich nicht bewahrheitet. Der Markt regelt nicht alles, was der Staat zu regeln versäumt.

Die früheren nord- und ostdeutschen protestantischen Wirtschaftseliten hätten im Nachkriegsdeutschland an Dominanz eingebüt.

Vermgen, vor allem Produktionsvermögen, sei ein Machtfaktor. Umgekehrt fehle es den Gering- bis Nichtvermögenden auch an Zugängen zu Informationen, Bildung und Ausbildung. Auch das seien Gründe für die geringen Chancen eines Klassenaufstiegs und einer allgemeinen Durchmischung der Klassen.

Da mangelnde Bildung in frühen Entwicklungsphasen eines Kindes später nicht mehr aufzuholen sei, wäre der Ausbau der generellen Förderung im Vorschulalter wichtiger als Stipendien für Studenten.

Dass die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Eliten unter sich blieben, liege außer an den genannten Faktoren auch an der Persönlichkeitsstruktur ihrer Angehörigen, dem „Habitus“, d.h. dem Auftreten, Sprache, Dresscode usw., der sie als Mitglieder dieser Elite ausweise. Das sei kein rein deutsches Problem; in Frankreich, England und den USA müsse man auf der „richtigen“ Schule, College oder Universität studiert haben. Die Wirtschaftselite, um die es hier gehe, Eigentümer wie Manager, sei als Funktionselite, nicht als Leistungselite zu beschreiben. Das mache es besonders ärgerlich, wenn immer wieder gesagt werde, dass die Leistung dieser Leute ihren Preis habe.

Gegenüber den angelsächsischen Ländern sei das freiwillige Abgeben, z.B. in Form von Stiftungen, bei uns besonders unterentwickelt, und das umso mehr, als Unternehmerpersönlichkeiten alten Stils durch ein Management ersetzt werden.
Prof. Wehler weist den Vorwurf zurück, die Medien seien Schuld an dem geringen Interesse der Öffentlichkeit an dem Problem der sozialen Ungleichheit. Im Unterschied zu den USA seien in Deutschland vor allem die wichtigsten Printmedien offene Abnehmer seiner Vorstellungen. Anders als z.B. die Inflationsrate sei soziale Ungleichheit nicht in einfachen Prozentzahlen anzugeben - ein weiterer möglicher Grund für das mangelnde Interesse von Gesellschaft und Politik.  Und schon jetzt seien Zweifel angebracht, ob die Große Koalition Schritte unternehmen werde, der Ungerechtigkeit entgegenzutreten.

Detlef Merkel

> Quelle
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